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Das offene Fenster


Ein graues Großstadthaus
in mattem Mittagslicht
des trüben Tages,
die vielen Fenster voll Gleichgiltigkeit
und Langeweile:
nur eines offen - so geöffnet,
daß seine Flügel
den schmalen, hellen Vorhang
rückwärts reißen,
um mit großartiger Gebärde
das unbestimmte, tiefe Dunkeln
des Innenraums zu zeigen:
und dieses Dämmern ist so farblos schwimmend
wie ungeformte Erdgefühle,
die aus dem All wie Säfte in uns steigen;
doch plötzlich ist ein klares Fühlen
wie fröhlicher Besitz vor Dir:
so steht ganz vorne auf dem Fensterbrett
ein glitzernd schlankes Glas
mit hellen Nelken.


Chrysanthemen

Zärtlich weiße Chrysanthemen
freuen sich vor rötlich-braunen Blättern,
sind wie Ostertage nach der Trauer.
Zärtlich weiße Chrysanthemen,
welche Licht und Dunkel nehmen
wie ein seidnes Kleid in warmen
Armen eines roten Sessels,
scheinen Wunder zu bedeuten:
ihre feinen Blütenblätter, die sich schämen,
zähmen silbernes Gelächters Läuten,
schauen schüchtern nach der dunklen Mitte:
ihr Geschlossensein ist eine Bitte
gegen Blicke, welche hastig nehmen;
aber solchen, die mit einem bangem Zagen
diese silberlichten Mädchen fragen,
sind sie wie geliebte Augen offen:
fern in ihnen weiße Seelen schimmern
wie der Mövenflügel weiches Flimmern,
die ein Sonnenstrahl im Flug getroffen.
  
Siegfried Kawerau (1886, Berlin -1936, Berlin),
in: Siegfried Kawerau: Lieder aus dem Dunkel, Berlin, 1910.
 

Weitere Gedichte von Siegfried Kawerau auf der Website: http://www.deutsche-liebeslyrik.de/kawerau.htm

(http://www.deutsche-liebeslyrik.de/kawerau.htm)